Dieses Interviews wurde im Rahmen eines Faktenchecks zu Albrecht Glaser (AfD) geführt.
Telefonisches Interview mit Islamwissenschaftler Dr. Abdel-Hakim Ourgi aus Freiburg.
Der Islamwissenschaftler Dr. Abdel Ourgi beschäftigt sich mit Koranforschung, sunnitischem Fatwawesen, den Ibaditen in Nordafrika und islamischer Theologie. Er lehrt und forscht an der Pädagogischen Hochschule Freiburg. Mit seiner Einwilligung wurde das telefonische Interview mitgeschnitten, transkribiert und journalistisch überarbeitet.
stimmtdas.org: Der Islam und die Sunna sind die konstituierenden Schriften des islamischen Glaubens. Wie wörtlich werden diese Schriften ausgelegt?
Dr. Abdel Ourgi: Muslime heutzutage haben eher mit der Exegese des Korans zu tun und weniger mit dem Koran in der Originalfassung. Deshalb, wenn wir die Exegese in Betracht ziehen, dann haben wir nicht nur eine einzige Auffassung des Korans, sondern eine Vielfalt und verschiedene Methoden und inhaltliche Zugangsweisen zum Koran.
stimmtdas.org: Wie kann man sich als Gläubige oder Gläubiger überhaupt orientieren?
Dr. Abdel Ourgi: Die Muslime haben erstmal einen Gelehrten oder einen Imam in der Moschee, den sie fragen, wenn sie sich nicht mit dem Koran auskennen. Und diejenigen, die selbst lesen, die lesen die sogenannte Exegese des Korans.
stimmtdas.org: Jetzt gibt es ja nicht nur den Koran, sondern auch die Sunna. Gilt diese auch als Wort Gottes und zu befolgende Vorschrift?
Dr. Abdel Ourgi: Wir müssen versuchen, die Entstehung der Sunna genau unter die Lupe zu nehmen. Die Sunna ist die zweite kanonische Quelle der Muslime. Allerdings ist die Sunna bzw. sind die Aussagen des Propheten Überlieferungen, die Jahrhunderte nach dem Tod des Propheten entstanden sind. Selbst muslimische Gelehrte haben Zweifel an der Echtheit vieler Aussagen des Propheten. Es gibt eine ganze Wissenschaft, die zwischen den zweifelhaften und den glaubwürdigen Überlieferungen der Aussagen des Propheten unterscheidet. Das heißt: Menschen haben sich einige Aussagen ausgedacht, um ihre Macht zu dieser Zeit zu legitimieren. Die Tradition des Propheten ist also ein historisches Produkt aus ideologischen Gründen. Deshalb kann die Tradition des Propheten bzw. die Sunna nicht als Gottes Wort angesehen werden.

stimmtdas.org: Was für eine Rolle spielen Sunna und Koran in Bezug auf Religionsfreiheit?
Dr. Abdel Ourgi: Sie müssen zwischen Theorie und Realität unterscheiden. Wenn ich über die Religionsfreiheit im Koran spreche, dann ist der Islam eine Religion der Freiheit im Glauben und im Denken und Handeln. Das heißt der Mensch kann – gemäß des Korans – nur zur Rechenschaft gezogen werden, weil Gott ihm Freiheit und Selbstbestimmung gewährt hat. Das heißt, wenn wir das genau in Betracht ziehen, können wir sagen: Gott hat den Menschen zur Freiheit befreit. Ein Beispiel aus dem Koran: Sure 18 Vers 29. Ich zitiere: „Wer glauben will, möge glauben und wer nicht will, möge nicht glauben.“ Wir finden auch im Koran eine fundierte Grundlage für die Freiheit des Menschen und sogar auch für die Meinungsfreiheit. Ein weiteres Beispiel wäre die Sure 2, Vers 256: „In der Religion des Islam gibt es keinen Zwang.“ Allerdings müssen wir, wenn wir über den Koran sprechen, unterscheiden zwischen zwei unterschiedlichen Arten der Auslegung. Ich spreche über den Koran im ethischen und humanistischen Sinne, aber es gibt auch die politisch-juristische Auslegung. In Teilen des Korans geht es um Gewalt, um Kriege und das politische Handeln des Propheten im Zeitraum zwischen 622 und 632 – also bis zu seinem Tod. In diesem politisch-juristischen Koran gibt es die sogenannten Körperstrafen auch die sogenannte Unterdrückung der Frau. Da gibt es eine ganze Reihe von Versen. Deshalb muss der Koran unbedingt situativ betrachtet und historisch-kritisch analysiert werden, denn er ist für das 7. Jahrhundert geschrieben worden.
stimmtdas.org: Sie sprechen auch von unterschiedlichen Teilen des Koran?
Dr. Abdel Ourgi: Ja, man muss hier historisch vorgehen. Muslimische Gelehrte haben im Laufe der Jahrhunderte unterschieden zwischen dem Koran, den es natürlich nur einmal gibt – allerdings periodisch gesehen gibt es den Koran, der in Mekka von 610 bis 622 offenbart worden ist. Da haben wir einen Propheten als Verkünder einer Religion, die in erster Linie auch friedlich ist. Und wir haben die zweite Periode, die metinensische Periode, das ist der Koran, der zwischen 622 und 632 in Medina, also in der zweiten heiligen Stadt der Muslime, offenbart worden ist. Und da haben wir es zum größten Teil mit Versen zu tun, die dazu dienten, die Gemeinde des Propheten politisch und gesellschaftlich zu organisieren.
stimmtdas.org: Sie sprechen also von Teilen, die politisch-juristisch interpretiert werden können und Teilen, die eher ethisch im übertragenen Sinne auf unsere heutige Situation angewendet werden können.
Dr. Abdel Ourgi: Genau. Das ist unsere Aufgabe.
stimmtdas.org: Können Sie erklären, auf welche Argumentationen sich Menschen wie z.B. Glaser stützen, dass der Islam als Religion keine Religionsfreiheit kennt?
Dr. Abdel Ourgi: Die Methode von Herrn Glaser und vielen rechten Populisten ist die gleiche wie die salafistische Methode: Es geht darum, bestimmte Verse aus dem Kontext zu reißen und ohne ihre historische Situation in Betracht zu ziehen und dementsprechend zu interpretieren. Da unterscheide ich nicht zwischen der Vorgehensweise der AfD und der der Salafisten. Diese Meinung, die Glaser vertritt, kennen wir. Es gibt bestimmte Verse im Koran, die zu Gewalt aufrufen. Diese Verse können Sie jedoch nicht losgelöst von ihrem historischen Kontext lesen. Wir müssen die sogenannten Offenbarungsgründe in Betracht ziehen. Es gibt methodische Vorgehensweisen, um den Koran kritisch-historisch zu verstehen.
stimmtdas.org: Es geht ja darum, dass es im Koran einige Verse gibt, auf die sich diese Apostasie, also den Abfall vom Glauben stützt und die immer wieder rezitiert werden. Sie sagen, dass die historisch-kritisch ausgelegt werden müssen. Aber ein Großteil der Muslime sagt das ja nicht. Nehmen Sie z.B. Sure 4, Vers 89 „Ergreift sie und tötet sie wo immer ihr sie findet.“
Dr. Abdel Ourgi: Im Kontext, in dem diese Sure steht, geht es um Verteidigung. Einige Kriege, die der Prophet geführt hat, waren schlicht Verteidigungskriege. Unsere Aufgabe ist es, diese Verse heutzutage nicht so zu verstehen, als lebten wir in der politischen und gesellschaftlichen Realität des siebten Jahrhunderts.
stimmtdas.org: Die Todesstrafe, die in einigen Ländern, in denen der Islam Staatsreligion ist auf Apostasie steht, wird ja meistens mit der Sunna begründet. Die berühmteste Stelle in der Sunna ist „Wer seine Religion wechselt, den tötet. Wer sich von euch trennt, der soll sterben.“
Dr. Abdel Ourgi: Zur Abkehr von der Religion gibt es eine Sure im Koran, Sure 40: „Wenn jemand seine Religion verlassen will, dann wird Gott Menschen bringen, die er liebt und die ihn lieben.“ In diesem Vers geht es ums Verlassen der eigenen Religion. Wir haben aber in diesem Vers keine Rechtsbestimmung, wie man damit umgeht. In dem Vers, in dem es um Apostasie geht, ist nicht die Rede von irgendwelchen Körpersprachen, den Apostasen. Allerdings haben wir eine Aussage, erfunden von einem Gelehrten 200 Jahre nach dem Tod des Propheten, und einige Gelehrte orientieren sich daran. Hierin besteht ein großes Problem.
stimmtdas.org: Welche erfundene Aussage meinen Sie genau?
Dr. Abdel Ourgi: Dass jemand, der seine Religion ändert, getötet werden soll. Das soll der Prophet gesagt haben. Diese Aussage geht nicht auf den Propheten zurück, sondern auf einen Gelehrten, der sie erfunden hat. Apostasie wurde im Laufe der Geschichte jedoch zum Todschlagargument im Kampf gegen politische Gegner und Andersdenkende.
stimmtdas.org: Wie wird belegt, dass das ausgedacht ist?
Dr. Abdel Ourgi: Die Aussagen des Propheten sind in dem Sinne prüfbar, dass sie mit dem Koran vereinbar sein müssen. Also das heißt, zu jeder Aussage des Propheten muss es einen Vers geben.
stimmtdas.org: Das ist die moderne Auslegung?
Dr. Abdel Ourgi: Nein, 1925 hat ein Gelehrter, Ali Abd ar-Raziq in Ägypten ein Buch geschrieben: „Der Islam und die Grundlagen der Herrschaft“. Darin erwähnt er einen historischen Beweis, dass die Apostasie gegen politische Gegner verwendet wurde. Der Nachfolger des Propheten, Abu Bakr (630–634), hat alle seine Gegner hinrichten lassen und man hat seine Gegner als „Apostaten“ bezeichnet. Allerdings waren sie keine, sondern nur Leute die sogenannte „Almosen“ nicht zahlen wollten und ihm als Herrscher politisch nicht huldigen wollten.
stimmtdas.org: Trotzdem gibt es noch zahlreiche Länder, in denen Apostasie unter Todesstrafe steht. Das heißt, auch heute gibt es noch Auswirkungen dieser Auslegungen des Korans.
Dr. Abdel Ourgi: Das ist leider wahr. Aber lassen wir uns über den Islam in Deutschland sprechen. Die Muslime hier müssen unbedingt lernen, dass jemand, der seinen Glauben wechselt, auch ein Mensch ist und keiner darf über ihn entscheiden. Die Religion ist etwas privates.
stimmtdas.org: Gibt es einen Unterschied, wie unterschiedliche Strömungen des muslimischen Glaubens mit Apostasie umgehen?
Dr. Abdel Ourgi: Nein, es gibt keinen Unterschied. Bei den Sunniten gilt die Apostasie als große Sünde, für die der Mensch mit seinem Leben bezahlen muss. Das sind Meinungen von Gelehrten seit dem 10 Jahrhundert. Sie sehen, dass wir Muslime immer noch in der Vergangenheit leben. Heute, im 21. Jahrhundert, sollte niemand Angst um sein Leben haben müssen, wenn er seine Religion aufgibt. Auch die Schiiten ahnden Apostasie mit der Todesstrafe. Es gibt leider keine allgemeine Rechtsschule, die das anders sieht.
stimmtdas.org: Das heißt das ist die vorherrschende Meinung bezüglich der Auslegung des Koran und der Sunna?
Dr. Abdel Ourgi: Nein, Sie müssen vorsichtig sein. Gelehrte aus früheren Zeiten haben das institutionalisiert. Aber im 21. Jahrhundert, insbesondere im westlichen Kontext, dürfen wir uns nicht mehr danach orientieren.
stimmtdas.org: Das heißt die Problematik ist, dass in allen Rechtsschulen an alten Interpretationsformen festgehalten wird. Sie und Ihre Mitstreiter fordern eine zeitgemäße Auslegung des Islams.
Dr. Abdel Ourgi: Genau. Es geht nicht um eine wortwörtliche Interpretation des Korans und der Sunna, sondern um eine nicht belegte Aussage eines Gelehrten, woran sich Muslime bis heute orientieren. Das ist traurig.
Für den Inhalt dieses Interviews gewährt stimmtdas.org keinerlei faktische Garantie. Es gibt lediglich die Sichtweisen und Meinungen eines Islam-Gelehrten wider
2 Gedanken zu „Religionsfreiheit im Islam? Interview mit dem Islamwissenschaftler Dr. Abdel-Hakim Ourgi“
Kommentare sind geschlossen.
Dieses Interview ist sehr interessant. Vielen Dank dafür.
Das man religiöse Texte immer in ihren Kontext interpretieren muss und dann an die aktuelle Situation / Lebensweise / Moral anpassen muss, gilt wohl für alle Religionen.
Bitte bei Frauen auch Autorin schreiben. Vielen Dank!