Diese Aussage stammt aus von Alice Weidel, der Vorsitzenden der AfD-Bundestagsfraktion. Dass Deutschland sich Zuständen wie in Pariser Vororten annähert, stimmt nicht. Die sogenannten „Banlieues“ sind anders entstanden als Problemviertel in Deutschland. Sebastian Kurtenbach, Experte für Stadt- und Migrationsforschung, weist dementsprechend auf räumliche Unterschiede sowie Unterschiede in der Arbeitslosenquote hin. Der zweite Teil der Aussage Weidels, bezüglich „Parallelgesellschaften“, ist Kurtenbach zufolge nicht überprüfbar. Die Datenlage sei nicht ausreichend, zudem sei der Begriff „Parallelgesellschaft“ an sich nicht eindeutig zu definieren.
von Linda Ruppert und Ines Eisele
Was ist mit „Zuständen in Pariser Vororten“ gemeint?
Alice Weidel führt den Begriff nicht weiter aus. Sehr wahrscheinlich bezieht sie sich auf die sogenannten „Banlieues“, benachteiligte Randgebiete französischer Großstädte und vor allem von Paris. Ein Großteil dieser Vorstädte entstand nach dem Zweiten Weltkrieg im Zuge einer massiven Wohnungsnot, was zum Bau neuer Hochhaussiedlungen in der Nähe von Industriestandorten führte. Die als Symbolik des wirtschaftlichen Aufschwungs gedachten Bauten erwiesen sich bald infrastrukturelle Fehlplanungen.
Die leerstehenden Wohnungen wurden, so die Bundeszentrale für politische Bildung (bpb), insbesondere von Einwanderern aus ehemaligen französischen Kolonien in Nordafrika bezogen. Seit der Wirtschaftskrise in den 1970er Jahren herrscht eine hohe Arbeitslosigkeit unter den BewohnerInnen der Banlieues. Politische Vernachlässigung, sozialräumliche Ausgrenzungen, infrastrukturelle Mängel und eine hohe Kriminalitätsrate prägen seither diese Vorstadtgebiete.
Nicht zuletzt führte die Stigmatisierung der Gebiete als „soziale Brennpunkte“ oder „Ghettos“ zu weiterer Diskriminierung, Rassismus, Benachteiligung und Ausgrenzung – und bietet damit einen Nährboden für Parallelgesellschaften. In den letzten Jahren gab es in den Banlieues immer wieder gewalttätige Ausschreitungen zwischen Jugendlichen und der Polizei, wie der Erziehungswissenschaftler Martin Bittner beschreibt.
Bewegt sich Deutschland auf vergleichbare Zustände zu?
Großstädte haben laut dem Sozialwissenschaftler Sebastian Kurtenbach in Deutschland zunächst einmal eine andere Siedlungsstruktur. Es gibt demnach keine Satellitenstädte in ähnlicher Größe, welche nahezu vollständig von gefördertem Wohnraum geprägt sind, Problemviertel hierzulande sind kleiner und liegen innerhalb der Städte.
Die Situation, so der Experte für Stadt- und Migrationsforschung weiter, sei schlichtweg eine andere: „Eines der Probleme in Frankreich ist, dass Jugendliche aus stigmatisierten Wohngebieten selbst bei guten Schulleistungen nicht dieselben Chancen bekommen wie Jugendliche aus Orten mit einem guten Ruf.
In Deutschland wird Versagen eher individualisiert, in manchen der Pariser Vororten wird es eine kollektive Erfahrung und als Diskriminierung wahrgenommen. Daraus würde auch die Bereitschaft erwachsen, dauerhaft in Gruppen gegen Vertreter des Staates zu handeln. Das sehe man in Deutschland nur sehr vereinzelt, so Kurtenbach. Auch Jugendarbeitslosigkeit hat dem Experten zufolge in Deutschland nicht dieselbe Qualität wie in französischen Problemvierteln. Angesichts der aktuellen wirtschaftlichen Entwicklung Deutschlands sei es auch nicht wahrscheinlich, dass sich das bald ändert.Auch wenn man die Kriminalität als Parameter heranzieht, bestätigt sich Kurtenbach zufolge nicht das Bild, dass Deutschland sich auf banlieue-ähnliche Zustände zu bewege. Es lasse sich kein rasanter Anstieg der Jugendgewalt feststellen, in Berlin sei die Anzahl der tatverdächtigen Jugendlichen bei Gewaltdelikten in den letzten Jahren sogar zurückgegangen.Alice Weidels Aussage, Deutschland bewege sich „rasant auf Zustände wie in Pariser Vororten zu“, bezeichnet der Wissenschaftler von der Universität Bielefeld als „selektive Wahrnehmung der Situation“.
Beschleunigt die „Masseneinwanderung von Muslimen“ seit 2015 die Bildung von Parallelgesellschaften?
Mediale Diskussionen um sogenannte Parallelgesellschaften gibt es sowohl in Frankreich als auch in Deutschland seit Jahren. In der deutschen Politik werden laut Geflüchtete mit der Entstehung von Parallelgesellschaften in Verbindung gebracht. Klaus J. Bade, Direktor des Instituts für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien (IMIS) negiert auf Anfrage von stimmtdas.org die Existenz von Parallelgesellschaften. Kriterien für Parallelgesellschaften im klassischen Sinne würden in Deutschland nicht erfüllt. Dazu gehörten:
- eine monokulturelle Identität
- ein freiwilliger, bewusster sozialer Rückzug
- eine weitgehende Doppelung von Institutionen des Staates
In einzelnen Städten seien zwar sich selbst abgrenzende ethnische Kolonien entstanden – einerseit in Gestalt von einzelnen Straßenzügen, andererseits in Gestalt von Netzwerken und Großfamilien. Dabei handele es sich aber um seltene Erscheinungen, die durch ihre Auffälligkeit und die damit einhergehende öffentliche Denunziation das Gesamtbild verzerrten. Dort habe sich zum Teil auch eine Doppelung von Institutionen herausgebildet, unter anderem die sogenannten „Friedensrichter“. Jedoch sind derartige Gegebenheiten laut dem Migrationsforscher Ausnahmen, welche die Regel bestätigen. Insgesamt sei Integration in Deutschland immer noch besser als ihr Ruf. Ob speziell die starke Zuwanderung von 2015/16 daran etwas ändern werde, hänge entscheidend von der Integrationsförderung und von der klaren Positionierung des Einwanderungslandes im Blick auf seine verfassungsgemäßen Grundwerte ab.
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Auch Kurtenbachs Einschätzung zufolge kommen Parallelgesellschaften in Deutschland nicht oder nur sehr vereinzelt vor. Zudem sei der Begriff Parallelgesellschaften an sich sehr schwierig zu verwenden. Er werde häufig als politisches Schlagwort benutzt, tauge aber weniger zum analytischen, wissenschaftlichen Gebrauch im Kontext von Zuwanderung. Insgesamt liegen laut Kurtenbach keine belastbaren Daten vor, die beweisen oder widerlegen, dass sich durch die aktuelle Zuwanderung Geflüchteter vermehrt parallelgesellschaftliche Strukturen gebildet haben. Dementsprechend sei auch ein Vergleich mit der Situation in anderen Ländern wie etwa Frankreich nicht möglich.
Fazit: Alice Weidels Aussage, Deutschland bewege sich rasant auf Zustände wie in Pariser Vororten zu, stimmt nicht. Der Experte für Stadt- und Migrationsforschung, Sebastian Kurtenbach, verweist in diesem Zusammenhang auf räumliche Unterschiede sowie Unterschiede in der Arbeitslosenquote. Die zweite Aussage der AfD-Politikerin Weidels, die „Einwanderung gläubiger Muslime seit 2015 beschleunige die Entstehung von Parallelgesellschaften“, ist nicht überprüfbar. Der Begriff ist analytisch schwer zu fassen und für eine verlässliche Analyse ist Kurtenbach zufolge die Datenlage nicht ausreichend. Dem Migrationsforscher Klaus Klaus J. Bade zufolge sind Phänomene, die landläufig mit dem Begriff “Parallelgesellschaften” verbunden werden, selten und lokal stark begrenzt.
6 Gedanken zu „Bewegt sich Deutschland auf Parallelgesellschaften wie in Pariser Vororten zu?“
Kommentare sind geschlossen.
Liebe Frau Ruppert,
wie beurteilen Sie die Situation bzgl. Parallelgesellschaften und wie würden Sie diese beschreiben, wie sie im Essener Norden, im Dortmunder Norden, in Stadteilen wie Duisburg, Gelsenkirchen, etc. (Aufzählung beliebig erweiterbar) vorzufinden sind? Gerne können Sie auch mal den Blick nach Brüssel richten.
Freue mich auf Ihr Feedback
Hallo N. Hinz, vielen Dank für Ihren Kommentar. Faktenchecks von stimmtdas.org zeichnen sich gerade dadurch aus, dass keine (persönlichen) Einzelbeispiele herangezogen werden, sondern Aussagen auf Grundlage von Expertenwissen und intersubjektiv nachvollziehbaren Daten beantwortet werden.
Die Aussage zu Parallelgesellschaften basiert auf der Expertenmeinung, nicht auf der persönlichen Meinung der Autorin. Zudem wurde dieser Teil der Aussage als “nicht überprüfbar” eingeordnet, da uns — und auch Frau Weidel!- Daten zur Falsifikation fehlen.
Mit besten Grüßen
Das Team von stimmtdas.org
Vielen Dank für Ihr Feedback.
Wenn ich das dann richtig interpretiere, ist dieser Beitrag auf Grund ihrer Einordnung “nicht überprüfbar” und wegen “fehlender Daten zur Falsifikation” lediglich eine Hypothese.
Hypothesen müssen bei der Theoriebildung darauf überprüft werden, ob sie widerlegbar (falsifizierbar) sind. Die Hypothesenformulierung muss die Falsifizierbarkeit grundsätzlich zulassen. Werden Hypothesen in der Empirie widerlegt, sind sie zu verwerfen. Eine Hypothese kann grundsätzlich nicht verifiziert werden, da nicht ausgeschlossen werden kann, dass sie sich nicht doch — ggfs. unter anderen Umständen — als falsch erweist. Warum werden solche Inhalte dann als Expertenwissen publiziert?
Beste Grüße
Weil Hypothesen durchaus auch den gängigen Wissensstand widerspiegeln. Diesen wiederum versuchen Experten zu definieren & zu erforschen. Natürlich kann es sein, dass heutige Erkenntnisse in zehn Jahren veraltet, aber eben mit heutigen Mitteln noch nicht besser erfassbar sind. Man denke nur an die moderne Medizin. Trotzdem käme man nicht auf die Idee jemandem seinen Expertentitel abzuerkennen, nur weil er ein Kind seiner Zeit ist. Dann verhindert die Zukunft jedwede Expertise.
@UBIK: Nein, denn erstens “bekommen” wir keine Parallelgesellschaften. Sie haben den Artikel nicht gelesen.
Zweitens hängen von der Beschaffenheit der parallelen Strukturen die Antworten darauf ab.
ist es nicht letztlich egal, ob wir Parallelgesellschaften innerhalb oder außerhalb der Städte bekommen?